Mittwoch, 29. Mai 2013

Kapitel 7 - Der erste Schritt zur Sucht

 Dieses Kapitel enthält triggernden Inhalt. Wer sensibel auf das Thema Selbstverletzung reagiert, sollte nicht weiterlesen!



 Es war Samstag. Heute Abend sollte die Party stattfinden und ich war aufgeregt wie sonst was. Ich hatte Mira darüber in Kenntnis gesetzt und hatte sie fragen wollen, ob sie mitkam. Aber sie war bereits ausgeflippt, als ich ihr die Einladung gezeigt hatte. Ich verstand sie irgendwie, aber andererseits wollte ich Kristin und ihren Leuten eine Chance geben. Es konnte ja auch sein, dass es ihnen wirklich leid tat. Immerhin waren sie auch nur Menschen. Und ich glaubte an das Gute in ihnen. So wie ich es schon immer getan hatte.
Jedenfalls stand ich jetzt ziemlich ratlos vor dem Schrank in unserem Zimmer und starrte die kleine Auswahl an Klamotten an. Das war alles so Party untauglich, was auch daran lag, dass ich noch nie gern feiern war. Aber wenn dies meine Chance sein sollte, mich einzufügen, wollte ich sie nicht vorüberziehen lassen. Schließlich griff ich zu einem schwarzen, knielangen Rock und lieh mir von Mira ein langärmliges Top, das dazu passte. Während ich mich fertig machte, hatte ich ständig den skeptischen Blick meiner Mitbewohnerin im Nacken. Manchmal war ich knapp davor, sie zur Schnecke zu  machen. Ich war schon nervös genug und sie ging mir zusätzlich auf die Nerven. Nachdem ich mich eine halbe Stunde mit dem Lockenstab gequält hatte, warf ich ihn frustriert aufs Bett. Meine Haare sahen einfach nur mies aus. Normalerweise war es mir ja egal. Aber nicht, wenn ich einen guten Eindruck machen wollte. Also wusch ich sie nochmal und föhnte sie dann einfach aus. Dünne Haare, wie Federn waren einfach bescheiden zum Stylen.
“Mein Gott, Freya. Denkst du nicht, du übertreibst das alles ein bisschen? Es ist nur eine Party. Noch dazu mit Menschen, die du eigentlich doch gar nicht magst”, versuchte Mira schließlich noch einmal, mich zur Vernunft zu bringen. Stur wie ich war, wollte ich das nicht hören.
“Lass mich doch einfach”, entgegnete ich also etwas zickig und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Abwehrend hob sie die Hände und schmiss sich aufs Bett, ihre Miene sagte deutlich: Du wirst schon sehen, was du davon hast. Hätte ich nur auf sie gehört.

Eine Stunde später war es soweit. Mir war vor Aufregung richtig schlecht, als ich in den Aufenthaltsraum runter ging. Eigentlich herrschte auf dem ganzen Gelände Zigaretten- und Alkoholverbot. Aber spätestens um 21 Uhr waren alle Lehrer zuhause und der Aufsichtsmensch war laut Danielle fast stocktaub. Noch heute stelle ich mir die Frage, warum der Lehrerrat eine fast taube Person als Aufsicht einstellt. Auf halben Weg kam mir Danielle entgegen. Sie sah umwerfend aus. Neben ihr kam ich mir vor, als würde ich einen Kartoffelsack tragen, aber das Gefühl hatte ich in Gegenwart anderer Leute ohnehin fast immer.
“Hey, Freya”, begrüßte sie mich mit einem Lächeln und hakte sich bei mir unter. Sofort fühlte ich mich etwas ruhiger. Alles war wie immer, alles würde gut werden.
“Hey, Dani. Du siehst super aus”, verkniff ich mir nicht ihr zu sagen, “ich meine, das tust du immer, aber jetzt eben ganz besonders.” Ich hörte mich an wie eine verdammte Schleimerin, aber sie sah wirklich super aus.
Danielle lachte leise und schüttelte den Kopf, wobei ihr perfekt gestyltes, glänzendes Haar schwungvoll über ihren Rücken glitt: “Quatsch, das liegt alles nur am Kleid. Aber du siehst auch klasse aus.” Ich nahm ihr Kompliment eigentlich nicht ernst, sagte aber höflich danke und lächelte leicht. Wir erreichten den Aufenthaltsraum letztendlich, in dem schon viel los war. Die Musik war meiner Meinung nach absoluter Schrott, aber das behielt ich für mich. Geschmäcker waren ja bekanntlich verschieden. Eine Gruppe von Leuten saß neben dem Flipperautomaten und unterhielt sich lautstark, alle hatten eine Bierflasche in der Hand, schienen aber schon ziemlich angeheitert zu sein. Kristin und Philippe saßen auf dem Sofa und knutschten- was aussah, als würden sie sich gegenseitig auffressen. Einfach eklig. Angewidert wandte ich den Blick ab. Danielle ließ meinen Arm los und stürzte sich ins Getümmel. Ich stand alleine da, immer noch in der Tür und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Die meisten in diesem Raum waren meine Klassenkameraden, aber dennoch fühlte ich mich total fehl am Platz. Ich gehörte hier nicht hin, ich sollte im Bett liegen und ein Buch lesen.
Aber da ich jetzt schon mal hier war, konnte ich auch versuchen, mich zu integrieren. Etwas zögernd ging ich also in den Raum und schnappte mir eine Bierflasche. Eigentlich hasste ich Bier, es war mir viel zu bitter. Aber etwas anderes gabs hier nicht, also musste ich mich damit begnügen. Wie ein Schatten schlich ich an den Leuten vorbei und versuchte Gesprächsfetzen aufzuschnappen, damit ich irgendwo einsteigen konnte. Das gelang mir aber nicht und ich fing an mich zu fragen, ob ich vielleicht vom Mars oder so kam, weil ich keine Ahnung hatte, wovon die alle redeten. Etwas grimmig verzog ich mich in eine Ecke und beobachtete die anderen stillschweigend. Tolle Party. Aber ich war sowieso kein Fan von Parties, vielleicht genau aus diesem Grund.
Eine Stunde und zwei Flaschen Bier später, saß ich auf der Couch, so weit weg wie möglich von Kristin, und beobachtete wie Danielle und Marissa mit drei Jungs Wahrheit oder Pflicht spielten. Aber es war nicht dieses Kinderspiel, sondern etwas..nennen wir es erwachsener. Pflicht hatte immer irgendwas mit Küssen oder ausziehen zu tun. Wahrheit mit persönlicheren Fragen. Es war recht spannend, ihnen zuzuhören und definitiv war es amüsant. Da kamen Dinge ans Licht, die man ihnen gar nicht zutraute. Irgendwann kam Marissa auf die Idee, dass ich mitspielen sollte. Im ersten Moment war ich ziemlich perplex darüber, aber auch angeheitert genug, um mich darauf einzulassen. Also setzte ich mich zu ihnen auf den Boden und spielte mit. Weil ich so feige war, entschied ich mich anfangs immer für Wahrheit. Ich hatte kein Problem damit, ehrlich auf Fragen zu antworten. Doch irgendwann wurde es den anderen Leuten zu langweilig und Marissa forderte Pflicht von mir ein. Es gefiel mir überhaupt nicht, aber ich wollte auch kein Spaßverderber sein, also nickte ich.
“Alsooo, dann darfst du jetzt...Marc küssen”, erklärte Marissa mit einem breiten Grinsen. Marc war der zweite Junge der Clique. Mit ihm hatte ich noch nie viel zu tun gehabt und er hielt sich meistens auch eher im Hintergrund. Ich sah ihn an und bemerkte, dass er dem genauso abgeneigt, wie ich es war. Auch wenn es wohl aus anderen Gründen war als bei mir. Ich hatte noch nie jemanden geküsst, meine zwei Beziehungen waren über Händchenhalten nicht hinausgegangen. Er hingegen musterte mich mit einer Mischung aus Herablassung und Abscheu, die ich schon von allen kannte. Aber es war ja nur ein kleiner Kuss, dachte ich, und ließ mich darauf rein. Ich beugte mich nach vorne und er auch- und schüttete mir den Inhalt seiner Bierflasche über das Oberteil. Einen Moment lang war ich zur Salzsäule erstarrt und konnte mich nicht rühren, während ich Kristin und ein paar andere Leute schon lachen hörte.
“Oh, das tut mir aber leid”, sagte Marc und klang alles andere als entschuldigend und seine Miene war äußerst schadenfroh. Lustigerweise war mein erster Gedanke gar nicht die Demütigung, die ich hier erlebte. Mein erster Gedanke war: Das ist Miras Top.
Ich sprang auf und wollte Marc anschreien, doch dazu kam ich nicht. Als mir bewusst wurde, dass alle lachten, wurde ich hochrot und musste Tränen zurückhalten, von denen ich gar nicht wusste, dass sie da waren. Obwohl mir ein ganzer Schwall von Worten auf der Zunge lag, sagte ich nichts. Ich machte kehrt und ging zügigen Schrittes auf die Toiletten zu.
“Oh, der Wal ist nass. Gehört sich das nicht so für Meerestiere?”, hörte ich von hinten irgendwo. Vor Wut fing meine Hand an zu zittern und ich pfefferte die leere Bierflasche auf den Boden, wo sie in Splitter zerbarst. Ich war wütend, gleichzeitig aber auch einfach nur gekränkt und verletzt.
“Ihr seid so verdammt scheiße!”, zischte ich und flüchtete aus dem Raum. Ich knallte die Tür hinter mir zu und hörte ihr Gelächter. Es tat so weh. Ein Außenseiter zu sein, das war nichts Neues für mich. Auch nicht das gemobbt werden. Aber diese ganz absichtliche und schmerzhafte Demütigung war zuviel. Es hinterließ einen tiefen Schnitt in meinem Inneren. Für viele mag das übertrieben klingen, aber genauso hatte es sich angefühlt. Ich kam nichtmal bis zu meinem Zimmer, als meine Beine mir den Dienst versagten und ich auf dem Flur heulend in die Knie ging. Ich heulte so sehr, dass ich keine Luft mehr bekam und mein Kopf hämmerte, ich heulte so sehr, dass mein Körper zitterte wie Espenlaub. Doch der Schmerz in meinem Inneren klang nicht ab, stattdessen fühlte ich mich überflüssig und wertlos wie noch nie. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Mira mich nur aus Mitleid so behandelte, wie sie es tat. Ich hatte nicht erkannt, dass es ihr ernst mit unserer Freundschaft war.
Irgendwann konnte ich aufhören, Tränen zu vergießen und rappelte mich immer noch zitternd auf. Nun wieder etwas wütend zerrte ich mir das Shirt über den Kopf und stapfte den restlichen Weg nur in Bh und Rock zum Zimmer.
Mira schlief schon, als ich es erreichte und ich schlich mich leise in unser Bad. Ich sah so zerstört aus, wie ich mich fühlte, der dumpfe Schmerz wühlte immer noch in meinem Inneren. Ich schloss die Badezimmertür hinter mir und zog mich aus, um zu duschen, wobei mein Kopf vor Schmerz leer war und das war ziemlich gut.
Als ich fertig war, zog ich mein Nachthemd über und putzte mir die Zähne. Dabei fiel mein Blick auf die Schublade, in der wir Schere und Pflaster aufbewahrten. Ein wahnwitziger Gedanke schoss mir in den Kopf. Ein Gedanke, der erneut alles veränderte. Was, wenn ich meinen inneren Schmerz mit anderem Schmerz überdeckte? Wie ferngesteuert zog ich die Schere aus der Lade. Besah sie mir, drehte sie in den Händen. Überlegte. Fuhr mit dem Finger über die Klinge. Führte sie mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchgegend zum Arm und starrte wieder einfach nur. Mein Herz raste vor Aufregung so sehr, dass es mir fast aus der Brust sprang. Was wäre wenn...? Ich stellte mir diese Frage und beschloss, mir auch die Antwort drauf zu geben. Ich drückte an und zog die Klinge der Schere durch die Haut. Brennender Schmerz machte sich sofort bemerkbar und ich biss mir auf die Unterlippe. Es tat weh..aber es fühlte sich gleichzeitig gut an. Es betäubte meinen inneren Schmerz. Es war der Beginn einer Sucht..


1 Kommentar:

  1. Hi Aimee...die Geschichte hat mich sehr berührt und extrem wütend gemacht!! Wie können manche Leute nur so hängen geblieben sein??? Sowas hat keiner verdient, was soll das nur?? Wie erbärmlich kann man sein? Ich hätte dir so gerne bei gestanden, auch wenn ich dich nicht kenne. Es ist so mies...scheiße..Leute die auf so eine Art mobben, haben mit sich selbst unfassbar große Probleme. Vielleicht tröstet dich das etwas. Und bitte, versuche es nicht mehr an dir selbst aus zu lassen. Weil man sich immer selbst beschützen sollte. Es war bei dir so nach dem Motto: Ihr habt mich verletzt, guck mal, ich kann mich selbst noch viel mehr verletzten, als ihr es jemals könnt! Das ist nicht richtig, Schmerz mit Schmerz zu "bekämpfen". Ich wünsche dir viel Kraft und Glaube an dich selbst. Versuche deine Gefühle anders los zu werden. Solche Leute sind es niemals wert!! Liebe Grüße

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