Montag, 20. Mai 2013

Kapitel 3- Böse Überraschung

Der erste Monat ging sehr schnell um. Man könnte sagen, ich habe mich gut eingelebt. Schon am dritten Tag der ersten Woche ging es richtig mit dem Stoff los, der so anspruchsvoll war, dass ich mich richtig reinhängen musste. Und das gefiel mir, weil ich mehr über den Stoff als über mich nachdenken musste.

Ich war mit Kristin- die Anführerin der Gruppe, die mich am ersten Tag erwischt hatte- und Philippe- einem der beiden Jungs- in einer Klasse. Das hatte mich zu Beginn ziemlich verunsichert, aber schnell merkte ich, dass sie sich in Anwesenheit eines Lehrers total scheinheilig benahmen und das gab mir in gewisser Weise Sicherheit.
Die Schule hatte eine große Bibliothek, in der ich mich die meiste Zeit aufhielt. Man konnte nie genug Bücher um sich herum haben! Mittlerweile war es Mitte Oktober, der Herbst hatte längst Einzug gehalten und es war recht frisch.
Ich saß in der hintersten Ecke der Bibliothek und versuchte für Mathe zu lernen. Das Fach war schon immer mein Schwachpunkt gewesen und jetzt war es das noch mehr. Ich hatte mehrere Bücher zu dem Thema aus dem Regal gezogen und versuchte irgendwie, das alles zu verstehen. Mira konnte mir auch nicht helfen, da sie selbst nicht wirklich weiterkam. Das war ziemlich frustrierend.
“He, Freya!”, hörte ich meinen Namen, ausgesprochen von einer Stimme, die ich nicht zuordnen konnte. Umso verwunderter blickte ich von den Büchern auf und sah mich um. Die Freundin von Kristin kam auf mich zu. Das machte mich sofort misstrauisch. Was wollte die denn bitte von mir. Ich wappnete mich für alles und mein Blick sprach mein Misstrauen ebenso aus, wie meine ganze Miene.

“Was willst du?”, fragte ich wenig freundlich, doch statt meine Abneigung anzunehmen, wurde ihr Grinsen nur noch breiter. Was mich wiederum noch misstrauischer machte. Ich mochte diese Gruppe nicht, ich hatte jede Menge Abneigungen gegen sie. Nicht nur, weil sie mich am ersten Tag so behandelt hatten, sondern auch, weil sie andere so behandelten.
“Ich wollte fragen, ob du mir mit Englisch helfen kannst”, fragte sie in zuckersüßem Tonfall, doch ich schnaubte nur. Ich bin zwar ein hilfsbereiter Mensch, aber wer würde demjenigen helfen, der sich über einen lustig macht? Auch meine Gutmütigkeit hatte Grenzen.
“Ich hab selbst genug zu tun”, fügte ich meinem Schnauben hinzu und richtete meinen Blick wieder auf meine Bücher. Ich bemühte mich, sie nach allen Kräften zu ignorieren, als sie zu schmeicheln überging und schließlich zu einer Schimpftirade. Ich sagte kein Wort und hörte ihr auch nicht zu. Schließlich zog sie wütend von dannen. Erleichtert sank ich in den Stuhl zurück und atmete tief durch. Ich hatte es geschafft, ruhig zu bleiben, oh Wunder!
Als ich mich Stunden später auf den Weg zum Abendessen machte, kam mir eine alarmierte Mira entgegen. Ihre Miene war ernst und gleichzeitig erschrocken, was mich sofort beunruhigte. Sie hatte mich noch nichtmal erreicht, als ich schon fragte: “Was ist los?” Japsend holte sie Luft, doch schließlich griff sie mein Handgelenk und zog mich einfach mit sich. Mir schwante Böses, da sie so still war. Normalerweise ließ Mira sich nicht aus der Ruhe bringen.

Wir erreichten unser Zimmer und mein Magen fühlte sich plötzlich an, als hätte ich einen Schlag abbekommen. Meine Bücher lagen im ganzen Zimmer zerstreut, Seiten waren herausgerissen worden, es roch nach Rauch. Auf dem Fensterbänkchen ein Häufchen Asche. Ich weiß noch, dass ich in diesem Moment nichtmal denken konnte. Ich verspürte einfach nur eine unsagbare Wut, die mir Magenschmerzen machte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und meine kurzen Fingernägel gruben sich ins Fleisch, sodass es leicht blutete.
Gleichzeitig war ich auch den Tränen nahe. Vor Verzweiflung und vor Zorn.
“Diese verdammten Arschlöcher”, stieß ich zischend hervor und trat gegen den Schrank. Mehrmals atmete ich durch, bevor ich anfing, meine Bücher aufzusammeln. Als ich merkte, welche zerstört worden waren, fing ich an zu heulen, einfach so. Es war mir egal, dass ich nicht allein war und es war mir egal, was Mira von mir dachte. Für den Großteil von euch sind es nur Bücher. Aber für mich waren sie schon immer meine Zuflucht, meine Freunde, mein Leben. Es war, als wäre ich auf der Beerdigung eines guten Freundes.
Mira lachte mich nicht aus. Sie versuchte auch nicht, mich zu beruhigen. Nein, sie half mir schweigend meine Bücher aufzuräumen, als ob sie genau wüsste, wie ich mich fühlte.
Nach etwa zwei Stunden hatte ich mich beruhigt und das nur, weil mir der Hals wehtat vom Weinen. Zitternd saß ich auf meinem Bett, als ich zum wiederholten mal das Ausmaß des Schadens betrachtete. Fast fing ich wieder an zu heulen, aber ich hielt mich zurück.

“Es tut mir leid”, brachte ich krächzend hervor. Schon wieder hatte sie mich heulen sehen, schlimmer als beim ersten Mal. Es war mir peinlich. Sie musste mich für ein kleines Kind halten. Doch Mira schüttelte nur den Kopf: “Es muss dir nicht leid tun...ich glaube, ich wäre auch am Boden zerstört.”
Schweigen senkte sich über unsere Köpfe, welches so laut war, wie ein Kanonenschuss. Wir schwiegen fast eine Stunde, in der ich meinen Bücherstapel traurig anguckte und Mira auf und ab lief. Schließlich war ihre Stimme es, die die Stille zerschnitt: “Weißt du, wer es war?”
Ich wandte ihr meinen Blick zu, nickte langsam: “Ich kann es mir vorstellen. Kristin und ihre Clique.”
Mira hob die Augenbraue: “Sie sind zwar fies, aber traust du ihnen das wirklich zu? Und vorallem warum?” Mir war klar, dass sie das nicht nachvollziehen konnte, also setzte ich mich hin und erzählte ihr zuerst vom Tag meiner Ankunft und anschließend von vorhin in der Bücherei.
Mira war im ersten Moment sprachlos, dann schüttelte sie aber den Kopf: “Wie kann man denn bitte nur so sein?” Ich zuckte die Schultern, fühlte mich aber in meinem Verdacht bestärkt, dass sie es waren.
“Was hast du jetzt vor? Gehst du zum Vertrauenslehrer?”, fragte Mira, aber ich schüttelte den Kopf. Nein, sagte ich. Das ist mein Kampf und den trage ich selbst aus. Hätte ich auf sie gehört, wäre mir vieles erspart geblieben.
Es hatte nicht lang gedauert und ich hatte gemerkt, dass ich mein Tagebuch nicht finden konnte. Zu der Zeit hatte ich fast jeden Tag geschrieben, warum weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls stürzte es mich in Panik, dass ich es nicht finden konnte, immerhin standen da meine Gedanken drin, die niemanden etwas angingen!

Ich hatte die Vermutung, dass Kristin das Buch mitgenommen hatte. Es war relativ unauffällig, eigentlich ein Notizbuch von Vampire Diaries, das man nur mit einem Gummiband verschloss. Deshalb hatte ich es gewählt, weil bestimmt niemand auf die Idee kam, dass das ein Tagebuch sein könnte. Falsch gedacht.
An diesem Abend war mir alles egal. Ich machte mich schnurstracks auf den Weg zu Kristins Zimmer, um Angst zu haben war ich zu wütend. Mit wütenden Schlägen klopfte ich an ihre Zimmertür. Von drinnen hörte ich ein Kichern, zwei Sekunden später wurde die Tür geöffnet und die Blondine strahlte mich mit einem gemeinen Grinsen an, ihre Stimme hatte einen unschuldigen Tonfall: “Was für eine Überraschung, Freya. Kann ich etwas für dich tun?” Ich weiß nicht, was passiert ist, auf jeden Fall wurde mir in diesem Augenblick so schlecht, dass mir mein Essen wieder hochkam. Eigentlich hatte ich vor, Kristin anzuschreien oder auf sie loszugehen. Stattdessen kotzte ich ihr auf die Hose und die Schuhe. Angeekelt schrie sie auf und stolperte rückwärts in ihr Zimmer, bevor sie die Tür zuknallte. Ich war zwischen lachen und weinen und vor Scham im Boden versinken. Wie angewurzelt stand ich noch eine Weile vor der Tür und konnte keinen Schritt gehen, weil meine Beine zitterten. Aber hey, es drückte zumindest meine Meinung über sie aus!
Eine halbe Stunde später fand ich mich wieder in unserem Zimmer ein, mein erster Weg war ins Badezimmer und unter die Dusche. Immer noch war mir schlecht, aber es ging wieder zurück. Noch heute stelle ich mir die Frage, was ich damals gehabt hatte. Als ich fertig geduscht hatte, trocknete ich mich langsam ab und kniff in meinen Bauch, meine fetten Oberschenkel, meine dicken Oberarme. Ich war angeekelt von mir selbst. Wie konnte man so fett sein? Wie konnte man so hässlich sein? Die Anderen mobbten mich zurecht, ich hatte es nicht anders verdient! Rasch zog ich meine Schlafsachen an, um diesen Anblick nicht länger ertragen zu müssen und wanderte gedankenverloren in mein Bett. Die Decke bis ans Kinn hochgezogen, fingen meine Gedanken an, wild herum zu rasen. Ich musste dringend abnehmen. Sehr dringend. Und ich musste selbstbewusster werden.

Miras Stimme gebot meinen Gedankengängen Einhalt: “Wo warst du?”
Ich linste zu ihr, ohne mich zu bewegen: “Ich war bei Kristin und wollte sie zur Rede stellen..” Ich drehte mich auf die Seite, sodass ich den großen Spiegel nicht sah und zog mir die Decke nun über den Kopf.
“Du wolltest? Was ist passiert?”, hakte meine Zimmerkollegin neugierig nach. Ich fluchte innerlich. Sollte ich ihr diese Peinlichkeit wirklich erzählen? Ich entschied mich für ja.
“Ich hab sie vollgereihert”, murmelte ich und spürte, wie ich errötete. Ich errötete ja wirklich wegen jeder Kleinigkeit, aber das war auch ziemlich peinlich. Stille. Und dann plötzlich lachte Mira los. Sie lachte mich nicht aus, nein. Sie lachte einfach nur über das Geschehen.
“Dein Ernst? Oh man, wie geil”, lachte sie und schüttelte den Kopf, “du hast ihr ziemlich deutlich die Meinung gesagt, würde ich mal behaupten.”
Ich nickte und grinste etwas, bevor ich mitlachen musste. Ja, das hatte ich. Allerdings hatte ich auch das dumpfe Gefühl, dass ich das noch bereuen würde. Auch wenn es keine Absicht gewesen war, Kristin war das ziemlich egal.


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