Montag, 20. Mai 2013

Kapitel 1- Abschied

Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Freya, zum Zeitpunkt der Geschichte bin ich 16 Jahre alt. Das ist wichtig, weil..ach ich weiß auch nicht. Früher dachte ich immer, mit 14 würde ich Sailor Kriegerin werden. Als das nicht passierte glaubte ich, dass ich mit 16 so wie Jeanne, die Kamikaze Diebin sein würde. Selbst mit 16 glaubte ich noch daran, dass ich später wie eine der Hexen in Charmed sein würde. Ich hatte schon immer eine lebendige Fantasie und liebte es, mich in dieser eigenen kleinen Welt festzuklammern. Wo niemand mir etwas anhaben konnte. Aber ich schweife ab.

Ich war also 16, hatte gerade einen Riesenkrach mit meiner Mutter und stand mehr oder weniger auf der Straße. Freunde hatte ich noch nie viele gehabt. Ich war immer der Einzelgänger. Oder diejenige, die mal mitging, wenn mein Stiefbruder sich mit seinen Freunden traf.

Zu dieser Zeit hatte ich mich entschieden, auf ein Internat zu gehen. Denn ich hatte es satt, in diesem Kaff festzusitzen, in dem es nichts gab außer ein paar Lebensmittelläden. Ich hatte es satt, meinen Erzeuger ständig zu sehen in dem Wissen, dass meine Schwester und ich ihm nichts bedeuteten, er grüßte nichtmal. Ich hatte es satt, ein Niemand zu sein. Vielleicht hatte ich aber auch einfach die Einsamkeit satt, niemand in meinem Dorf war so interessant, dass ich mit ihm befreundet sein wollte. Niemand teilte meine Hobbies und meine Leidenschaften. Ich fühlte mich fehl am Platz. In der falschen Gesellschaft. Heute erkenne ich, dass ich mich auch im falschen Leben fühle.

Ich lebte mit meinem Stiefbruder in einem kleinen Pensionszimmer zusammen, er war ein halbes Jahr jünger als ich. Meistens vertrugen wir uns gut, aber es konnte auch zu handfesten Auseinandersetzungen kommen. Ich arbeitete für die Aufnahmeprüfung eines Internats und hatte einen kleinen Nebenjob, der mir Geld einbrachte. Ich schaffte die Prüfung. Es war mir ein Rätsel wie, aber ich schaffte es. Von jetzt an würde alles besser werden. Zumindest dachte ich das.

Es war ein verregneter Sonntag Nachmittag, als ich meine Stapel von Büchern in einen Koffer schmiss, ein paar Klamotten dazupfefferte und meinen Kulturbeutel auch darin verschwinden ließ. Mein Stiefbruder saß argwöhnisch auf dem Bett und beobachtete mein Tun.

“Du weißt, dass das zu wenig Klamotten sind oder?”, gab er von sich, ein süffisantes Grinsen auf den Lippen. Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu: “Halt’s Maul. Ist ja nicht so, als könnte man Kleidung nicht waschen oder so.” Abwehrend hob Rufus die Hände: “Krieg dich mal wieder ein! Du musst nicht gleich so unfreundlich werden.”

Ich verdrehte die Augen und ging nochmal ins Badezimmer um nachzusehen, ob ich auch nichts vergessen hatte. Nein, alles leer. Ich guckte aufs Bett. Dort lag noch mein Lieblingsplüschtier, ein kleiner Stoffdalmatiner, den ich in der 5. Klasse auf einem Ausflug gekauft hatte. Mit meiner damaligen besten Freundin zusammen hatte ich den Namen “Lucky” für ihn ausgesucht. Damit er immer glücklich ist.

Ich steckte ihn in meinen Rucksack. Es war mir egal, dass ich eigentlich schon zu alt für Plüschtiere war, ich liebte sie. Die Gamecube und der kleine Fernseher würden bei Rufus bleiben. War mir auch ganz recht so, denn sie erinnerte mich an seinen besten Freund Tommy, in den ich zwei Jahre lang verknallt gewesen war. Manchmal hatte es Momente gegeben, in denen es zwischen uns geknistert hatte, aber da darauf gleich Kälte folgte, war ich mir sicher, mir das nur einzubilden. Natürlich, wer würde schon ein dickes, aggressives und so kindisches Mädchen wie mich jemals lieben?

Mit einem Seufzen verdrängte ich diese Gedanken. Heute war immerhin der erste Tag meines neuen Lebens oder so ähnlich.

“Es ist nett von Opa dich zu bringen”, merkte Rufus an, als ich das Ladegerät meines Handys aus der Steckdose zog und in die Seitentasche meines Rucksacks packte, bevor ich mich rücklings aufs Bett fallen ließ um zu warten.

“Mhm”, machte ich zustimmend und schloss die Augen. Ich glaubte nicht, dass ich irgendetwas hiervon vermissen würde. Freunde hatte ich nicht, Familie war mir auch nicht das Wichtigste. Höchstens meine Schwester würde ich vermissen, mit der ich mich besser denn je verstand.

“Wirst du alleine klarkommen?”, fragte ich Rufus und warf ihm einen kurzen Blick zu. Doch er lachte nur laut auf: “Ich komme auf jeden Fall besser klar als du.” Das tat weh. Weil es so wahr war. Ich war nicht unselbstständig in dem Sinne. Aber ich habe mich immer mehr auf andere verlassen als auf mich selbst. Vielleicht wollte ich auch deshalb unbedingt weg. Um zu beweisen, dass ich es eben doch konnte.

Ich sagte nichts auf die Worte meines Bruders. Ich kämpfte gegen Tränen, aber ich weinte nicht. Diese Genugtuung würde ich ihm nicht geben. Ich liebte ihn, aber in diesem Moment hasste ich ihn.

Ein Auto fuhr vor, mein Handy klingelte, Opa war da. Ich schulterte meinen Rucksack, nahm meine Ausgabe von Sturmhöhe in die Hand und umarmte Rufus flüchtig: “Bis bald. Werd dich vermissen.” Dann griff ich nach meinem Koffer und schleppte mich die Treppen nach unten. Mit freundlichen Worten verabschiedete ich mich von dem Ehepaar, das die Pension leitete, bevor ich mein vorübergehendes Zuhause verließ.

Meinen Großvater begrüßte ich mit einem etwas steifen Lächeln, hievte meinen Koffer in den Kofferraum und setzte mich auf die Beifahrerseite des Wagens. Er fragte, ob ich mich noch von meiner restlichen Familie verabschieden wollte. Kopfschüttelnd erklärte ich ihm, dass ich das bereits getan hätte. Und es war gar nicht gelogen, ich hatte ihnen eine Sms hinterlassen. Das war zwar nicht besonders persönlich, aber das störte mich nicht. Mein Familiensinn war in den letzten Jahren wohl ganz verloren gegangen, dachte ich damals. Im Unterschied zu heute war ich zu der Zeit aber noch sehr familiär.

Wir brachten die Autofahrt schweigend hinter uns, Opa konzentrierte sich auf die Straße, ich mich auf mein Buch. Hin und wieder blickte ich aus dem Fenster, um die rasch vorbeiziehende Landschaft zu betrachten. Nun wurde ich doch ein wenig wehmütig. Und ich wusste nicht wieso. Was ich zurück ließ war doch nur ein Haufen von Scherben. Ich wurde müde. Träge lehnte ich meine Stirn gegen die Fensterscheibe und versuchte so weiterzulesen. Bevor ich einschlafen konnte, kam der Wagen zum Stehen und mein Großvater verkündete, dass wir angekommen wären. Ich stieg aus und fing sofort an zu frieren. Es war allmählich am dunkel werden und ich trug nur ein Spaghettiträger Top und Dreivierteljeans. Eigentlich hasste ich diese Hose, weil ich so fett drin aussah, aber an dem Tag war mir das ziemlich egal. Den Koffer holte ich aus dem Auto und mein Buch stopfte ich in den Rucksack. Mit einer steifen Umarmung bedankte und verabschiedete ich mich von meinem Großvater und stand dann einige Minuten reglos auf dem Rasen und starrte das Gebäude an, das von nun an mein Zuhause sein würde.


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