Ich
stand also hier, samt Gepäck und starrte das überdimensional große
Gebäude an. Okay, das war vielleicht übertrieben. Es waren drei Gebäude-
das Schulgebäude, Freizeitgebäude und das Wohngebäude. Der Campus war
etwa so groß wie die Hälfte von dem Kaff, aus dem ich komme. Ich sage
ja, es war ein Kaff.
Die Sonne verschwand hinter den Bergen und erinnerte mich daran, dass ich
erfrieren würde, wenn ich hier weiter rumstand. Also nahm ich meinen
Koffer wieder hoch und lief auf den Wohnkomplex zu. In meinem Brief
stand die Zimmernummer mit der Anmerkung, dass ich mir das Zimmer teilen
würde. Damit würde ich schon leben können, hoffte ich zumindest. Ich
hielt es auf die Dauer nicht aus, jemanden vierundzwanzig Stunden am Tag
am Hals zu haben, aber so lange würden wir uns wohl nicht sehen. Da
waren ja die Schulstunden, die Freizeit, die Mahlzeiten..ich hoffte nur,
ich käme nicht mit einer Schicki-Micki Tussi in ein Zimmer, denn dann
war Stress schon vorprogrammiert.
Ich rechnete mit allem, als
ich die Zimmertür öffnete. Doch zu meiner Überraschung war das Zimmer
leer. Ich war entweder zu früh oder zu spät. Dennoch betrat ich den Raum
und schloss die Tür leise hinter mir. Kurz überblickte ich den Raum.
Zwei Betten, eins beim Fenster, eins bei der Tür. Ein großer Tisch mit 2
Stühlen, ein Wandschrank. Eine kleine dunkelblaue Couch, ein Fernseher,
der recht altmodisch aussah. Ich dachte in dem Moment noch, dass ich
dafür bestimmt eine Brille brauchen würde.
Dann blieb mein
Blick an einem Koffer hängen, der nicht meiner war. War ich also doch
nicht zu früh oder zu spät. Aber meine Zimmerkollegin war ausgeflogen.
Ich warf meinen Rucksack auf das scheinbar leere Bett und trat näher an
das ihre heran, um den Versuch zu starten, etwas über sie heraus zu
finden. Doch zu meiner Enttäuschung hatte sie bisher nur ein Buch auf
dem Nachtkästchen liegen und eine Bluse auf dem Kopfkissen. Das Buch
hatte etwas mit Blumen zu tun, den Titel weiß ich nicht mehr. Die Bluse
sah ganz normal aus. Gab mir keinen Aufschluss über die Art von Mensch,
die meine Zimmerkollegin sein würde.
Seufzend ging ich zurück
zu meinen Sachen und fing an, auszupacken. Mein riesiger Stapel Bücher-
aller möglicher Art, Fantasy, Krimi, Thriller, Mangas, Autobiographien-
schwankte bedrohlich, als ich ihn auf dem Nachtkästchen abstellte. Ich
warf ihnen einen bedrohlichen Blick zu und war mir sicher, dass sie
nicht umfallen würden. Die wenigen Klamotten warf ich unordentlich in
die Ecke des Schranks, es war mir egal, wenn sie zerknittert waren. Hier
stand niemand hinter mir und meckerte deswegen. Ein paar meiner
Plüschtiere landeten auf dem Bett, meine CD-Sammlung und Technischer
Krimskrams hingegen in der Schublade. Den leeren Koffer schob ich unter
das Gestell und schließlich setzte ich mich auf die Matratze und
lauschte der Stille. Ich genoss sie regelrecht. Keine streitenden
Geschwister, keine fauchende Mutter, kein gröhlender Staubsauger,
kein..Lärm. Doch nach einer Weile fing die vollkommene Stille an,
unheimlich zu werden. Also beschloss ich, mich draußen ein wenig
umzusehen. Ich schnappte mir mein Handy und Kopfhörer und ließ mich von
Bullet for my Valentine berieseln, als ich das Zimmer verließ und den
Gang zum Außenbereich entlang lief. Dabei kam mir der ein oder andere
Schüler entgegen, dem ich dann nur leicht zulächelte. Bloß nicht in ein
Gespräch verwickeln lassen! waren meine Gedanken. Ich wollte mit
niemandem reden, noch nicht. Ich wollte einfach nur weiter genießen. Ein
kleiner Feldweg führte zu einem winzigen Teich hinunter, doch er
fesselte mich sofort. Zwei Frösche tummelten sich auf den Blättern der
Seerosen und sprangen von Blatt zu Blatt. Ich ließ mich ins Gras fallen
und sah ihnen einfach dabei zu. Ich fühlte mich wohl.
Die
angenehme Stille hielt allerdings nicht sehr lange. Durch die doch
ziemlich laute Musik meiner Kopfhörer hörte ich mehrere Schritte, die
sich mir näherten. Mein Herz fing an zu rasen und Panik überkam mich.
Ich war so schlecht darin, mich mit Menschen abzugeben! Sollte ich
weglaufen? Das käme sicher auch ganz blöd. Also blieb ich stocksteif
sitzen wo ich war und hoffte, dass sie mich nicht bemerken würden.
Hoffte, sie würden vorbeiziehen. Dann fiel mir siedend heiß ein, dass
ich diese grässliche Hose trug, die mein ohnehin schon ekliges Äußeres
noch viel ekliger erscheinen ließ. Was hatte ich mir dabei gedacht? So
konnte ich mir doch gar keine Freunde machen! Meine Gedanken liefen Amok
und ich schrumpfte in mich zusammen, in der Hoffnung, einfach
unsichtbar zu sein. Ich zog Unsichtbarkeit dem Spott weit vor.
Doch mein Gebet wurde nicht erhört. Zwei Jungs und drei Mädchen kamen
direkt auf mich zu. Ein Mädel davon sah genau so aus, wie ich es mir in
meinen schlimmsten Träumen immer ausmalte. Die anderen wirkten auf den
ersten Blick normal. Doch diesen Gedanken vergrub ich ziemlich schnell
wieder.
“Was machst du Walross denn hier? Deine Familie
besuchen?”, fragte der Größere der Jungs mit spöttischer Stimme und
herablassendem Blick. Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht und ich
senkte den Blick. Unfähig etwas zu sagen, biss ich mir auf die
Unterlippe.
“Bist du taub oder was?”, fragte die
offensichtliche Zicke und flüsterte ihrer braunhaarigen Freundin etwas
zu, woraufhin diese kicherte.
Meine Hände zitterten leicht und
ich drehte die Musik lauter, um ihre Stimmen zu übertönen. Bitte nicht,
dachte ich, es kann doch nicht schon wieder so anfangen! Die Musik
dröhnte in meinem Kopf und machte ihn schwer, doch ich ließ sie so laut.
Plötzlich wurden mir die Ohrstöpsel aus den Ohren gerissen und die
Blondine beugte sich zu mir runter, wobei ihre Brüste fast aus dem tief
ausgeschnittenen Top purzelten: “Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit
dir rede!”
Einem Impuls folgend, blickte ich sie mit finsterer
Miene an und zischte: “Ich rede aber nicht mit dir, also sehe ich dazu
keine Notwendigkeit! Und stopf deine Fakebrüste wieder in dein Shirt
zurück!”
Einen Augenblick lang herrschte perplexe Stille, in
der mich erneut die Panik packte. Was hatte ich denn jetzt schon wieder
gesagt? Ich hasste diese Ausbrüche, die ich einfach nicht unter
Kontrolle hatte. Der Blick der gesamten Gruppe wurde eisig.
“Wir lassen dich nicht aus den Augen”, verkündete Blondchen und fügte
nach einer dramatischen Sekunde hinzu, “und das hier ist unser Platz.
Verzieh dich lieber schnell, bevor es noch Ärger für dich gibt,
Fettsack.”
Meine Hände bebten, doch diesmal nicht mehr vor
Angst, sondern schlichtwegs vor Zorn. Dennoch hielt ich einfach meine
Klappe, stand betont langsam auf und mein Gesicht war immer noch
hochrot, vor Demütigung. Ich wollte einfach nichts riskieren, in meinen
Wutausbrüchen hatte ich schon oft Schwierigkeiten gemacht. Ganz
besonders erinnerte ich mich an einen dieser Anfälle, die Rufus
betrafen. Ich glaube, ich war eifersüchtig, weil er ständig was mit
seinen Freunden machte und mich allein zurückließ. Ich hatte ihn
angebettelt, einmal bei mir zu bleiben und aus meiner verzweifelten
Bettelei wurde Wut und in dieser bin ich auf ihn losgegangen und habe
ihm fast den Arm gebrochen. Das war kurz nach unserem Rauswurf von
zuhause gewesen.
Um so etwas zu vermeiden, trottete ich den Weg
zurück, den Spott im Nacken und schließlich auch mit Tränen, die mir
über die Wangen liefen. Das war so typisch, erst eine große Klappe und
schließlich war ich wieder am Heulen. Ich hasste dieses kindische
Verhalten an mir so sehr, doch ich konnte es nicht ändern. Das ist auch
heute noch so.
Ich kam zurück ins Zimmer und schlug die Türe
hinter mir zu, schniefend pfefferte ich mein Handy aufs Bett- um gleich
darauf zu erröten. Toll, Blamage hoch zehn! Meine Zimmerkollegin hatte
sich mittlerweile eingefunden und sah mich jetzt mit einer Mischung aus
Verwirrung und Mitleid an. Sie trug eine Brille, hatte braunes Haar zu
einem Pferdeschwanz gebunden und sah nicht aus, wie eins dieser
Supermodels, sondern hatte eine schöne weibliche Figur. Und sie sah auch
nicht aus, wie eine Schicki-Micki-Tussi. Das beruhigte mich etwas.
Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und setzte mich aufs Bett. Was für ein hervorragender erster Eindruck.
“Alles okay?”, hörte ich sie fragen und ich nickte eifrig, während ich
nach Taschentüchern suchte. Irgendwo in meinem Rucksack hatte ich doch
noch welche gehabt.
“Heimweh”, log ich mit einem leichten,
schiefen Lächeln und wandte mich von ihr ab, um mich zu schnäuzen.
Heimweh. Noch erbärmlicher gehts ja wohl nicht! Aber das war das erste
was mir in den Sinn gekommen war und immer noch besser als die Wahrheit.
“Das kenn ich, in meinem ersten Jahr hier war das auch so”, meinte sie
in freundlichem Tonfall und sah mich weiterhin an. Es war mir ehrlich
unangenehm, also versuchte ich, mit einem Gespräch von meiner Heulerei
abzulenken.
“Ich bin Freya”, stellte ich mich vor, “sorry für
diesen katastrophalen Auftritt.” Zögernd streckte ich ihr meine Hand
entgegen. Das Mädchen schüttelte den Kopf: “Ist doch nicht schlimm. Ich
heiße Mira. Freut mich, dich kennenzulernen.”
Wir schüttelten
uns die Hände und ich musste unweigerlich lächeln. Ihre Hände waren
warm, ihr Händedruck stark, aber nicht zu stark. Ich mochte sie sofort.
Der restliche Abend verlief ziemlich ereignislos, wir quatschten noch
etwas über Belanglosigkeiten, futterten Schokolade und fielen
schließlich in den Tiefschlaf. Nachts wachte ich kurz auf, weil mir mit
einem Mal Panik in die Glieder fuhr. Ich wusste nicht, woher diese
rührte, noch wovor ich Panik hatte. Doch sie war da. Ich setzte mich
kurz auf und blickte zum Wandschrank. Jetzt, wo er geschlossen war,
erkannte ich einen großen Spiegel auf diesem. Ich hasste Spiegel, schon
immer. Sie machten mir Angst, ganz besonders Nachts. Mit einem
unbehaglichen Gefühl, das schon fast wieder an Panik reichte, drehte ich
dem Spiegel den Rücken zu und zwang meine Augen, sich zu schließen.
Nach einer Weile schlief ich erneut ein, träumend von blutverschmierten,
leeren Gestalten im Spiegel.
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