Montag, 20. Mai 2013

Kapitel 2- Ankunft

Ich stand also hier, samt Gepäck und starrte das überdimensional große Gebäude an. Okay, das war vielleicht übertrieben. Es waren drei Gebäude- das Schulgebäude, Freizeitgebäude und das Wohngebäude. Der Campus war etwa so groß wie die Hälfte von dem Kaff, aus dem ich komme. Ich sage ja, es war ein Kaff.

Die Sonne verschwand hinter den Bergen und erinnerte mich daran, dass ich erfrieren würde, wenn ich hier weiter rumstand. Also nahm ich meinen Koffer wieder hoch und lief auf den Wohnkomplex zu. In meinem Brief stand die Zimmernummer mit der Anmerkung, dass ich mir das Zimmer teilen würde. Damit würde ich schon leben können, hoffte ich zumindest. Ich hielt es auf die Dauer nicht aus, jemanden vierundzwanzig Stunden am Tag am Hals zu haben, aber so lange würden wir uns wohl nicht sehen. Da waren ja die Schulstunden, die Freizeit, die Mahlzeiten..ich hoffte nur, ich käme nicht mit einer Schicki-Micki Tussi in ein Zimmer, denn dann war Stress schon vorprogrammiert.

Ich rechnete mit allem, als ich die Zimmertür öffnete. Doch zu meiner Überraschung war das Zimmer leer. Ich war entweder zu früh oder zu spät. Dennoch betrat ich den Raum und schloss die Tür leise hinter mir. Kurz überblickte ich den Raum. Zwei Betten, eins beim Fenster, eins bei der Tür. Ein großer Tisch mit 2 Stühlen, ein Wandschrank. Eine kleine dunkelblaue Couch, ein Fernseher, der recht altmodisch aussah. Ich dachte in dem Moment noch, dass ich dafür bestimmt eine Brille brauchen würde.

Dann blieb mein Blick an einem Koffer hängen, der nicht meiner war. War ich also doch nicht zu früh oder zu spät. Aber meine Zimmerkollegin war ausgeflogen. Ich warf meinen Rucksack auf das scheinbar leere Bett und trat näher an das ihre heran, um den Versuch zu starten, etwas über sie heraus zu finden. Doch zu meiner Enttäuschung hatte sie bisher nur ein Buch auf dem Nachtkästchen liegen und eine Bluse auf dem Kopfkissen. Das Buch hatte etwas mit Blumen zu tun, den Titel weiß ich nicht mehr. Die Bluse sah ganz normal aus. Gab mir keinen Aufschluss über die Art von Mensch, die meine Zimmerkollegin sein würde.

Seufzend ging ich zurück zu meinen Sachen und fing an, auszupacken. Mein riesiger Stapel Bücher- aller möglicher Art, Fantasy, Krimi, Thriller, Mangas, Autobiographien- schwankte bedrohlich, als ich ihn auf dem Nachtkästchen abstellte. Ich warf ihnen einen bedrohlichen Blick zu und war mir sicher, dass sie nicht umfallen würden. Die wenigen Klamotten warf ich unordentlich in die Ecke des Schranks, es war mir egal, wenn sie zerknittert waren. Hier stand niemand hinter mir und meckerte deswegen. Ein paar meiner Plüschtiere landeten auf dem Bett, meine CD-Sammlung und Technischer Krimskrams hingegen in der Schublade. Den leeren Koffer schob ich unter das Gestell und schließlich setzte ich mich auf die Matratze und lauschte der Stille. Ich genoss sie regelrecht. Keine streitenden Geschwister, keine fauchende Mutter, kein gröhlender Staubsauger, kein..Lärm. Doch nach einer Weile fing die vollkommene Stille an, unheimlich zu werden. Also beschloss ich, mich draußen ein wenig umzusehen. Ich schnappte mir mein Handy und Kopfhörer und ließ mich von Bullet for my Valentine berieseln, als ich das Zimmer verließ und den Gang zum Außenbereich entlang lief. Dabei kam mir der ein oder andere Schüler entgegen, dem ich dann nur leicht zulächelte. Bloß nicht in ein Gespräch verwickeln lassen! waren meine Gedanken. Ich wollte mit niemandem reden, noch nicht. Ich wollte einfach nur weiter genießen. Ein kleiner Feldweg führte zu einem winzigen Teich hinunter, doch er fesselte mich sofort. Zwei Frösche tummelten sich auf den Blättern der Seerosen und sprangen von Blatt zu Blatt. Ich ließ mich ins Gras fallen und sah ihnen einfach dabei zu. Ich fühlte mich wohl.

Die angenehme Stille hielt allerdings nicht sehr lange. Durch die doch ziemlich laute Musik meiner Kopfhörer hörte ich mehrere Schritte, die sich mir näherten. Mein Herz fing an zu rasen und Panik überkam mich. Ich war so schlecht darin, mich mit Menschen abzugeben! Sollte ich weglaufen? Das käme sicher auch ganz blöd. Also blieb ich stocksteif sitzen wo ich war und hoffte, dass sie mich nicht bemerken würden. Hoffte, sie würden vorbeiziehen. Dann fiel mir siedend heiß ein, dass ich diese grässliche Hose trug, die mein ohnehin schon ekliges Äußeres noch viel ekliger erscheinen ließ. Was hatte ich mir dabei gedacht? So konnte ich mir doch gar keine Freunde machen! Meine Gedanken liefen Amok und ich schrumpfte in mich zusammen, in der Hoffnung, einfach unsichtbar zu sein. Ich zog Unsichtbarkeit dem Spott weit vor.

Doch mein Gebet wurde nicht erhört. Zwei Jungs und drei Mädchen kamen direkt auf mich zu. Ein Mädel davon sah genau so aus, wie ich es mir in meinen schlimmsten Träumen immer ausmalte. Die anderen wirkten auf den ersten Blick normal. Doch diesen Gedanken vergrub ich ziemlich schnell wieder.
“Was machst du Walross denn hier? Deine Familie besuchen?”, fragte der Größere der Jungs mit spöttischer Stimme und herablassendem Blick. Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht und ich senkte den Blick. Unfähig etwas zu sagen, biss ich mir auf die Unterlippe.
“Bist du taub oder was?”, fragte die offensichtliche Zicke und flüsterte ihrer braunhaarigen Freundin etwas zu, woraufhin diese kicherte.
Meine Hände zitterten leicht und ich drehte die Musik lauter, um ihre Stimmen zu übertönen. Bitte nicht, dachte ich, es kann doch nicht schon wieder so anfangen! Die Musik dröhnte in meinem Kopf und machte ihn schwer, doch ich ließ sie so laut. Plötzlich wurden mir die Ohrstöpsel aus den Ohren gerissen und die Blondine beugte sich zu mir runter, wobei ihre Brüste fast aus dem tief ausgeschnittenen Top purzelten: “Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!”

Einem Impuls folgend, blickte ich sie mit finsterer Miene an und zischte: “Ich rede aber nicht mit dir, also sehe ich dazu keine Notwendigkeit! Und stopf deine Fakebrüste wieder in dein Shirt zurück!”
Einen Augenblick lang herrschte perplexe Stille, in der mich erneut die Panik packte. Was hatte ich denn jetzt schon wieder gesagt? Ich hasste diese Ausbrüche, die ich einfach nicht unter Kontrolle hatte. Der Blick der gesamten Gruppe wurde eisig.
“Wir lassen dich nicht aus den Augen”, verkündete Blondchen und fügte nach einer dramatischen Sekunde hinzu, “und das hier ist unser Platz. Verzieh dich lieber schnell, bevor es noch Ärger für dich gibt, Fettsack.”
Meine Hände bebten, doch diesmal nicht mehr vor Angst, sondern schlichtwegs vor Zorn. Dennoch hielt ich einfach meine Klappe, stand betont langsam auf und mein Gesicht war immer noch hochrot, vor Demütigung. Ich wollte einfach nichts riskieren, in meinen Wutausbrüchen hatte ich schon oft Schwierigkeiten gemacht. Ganz besonders erinnerte ich mich an einen dieser Anfälle, die Rufus betrafen. Ich glaube, ich war eifersüchtig, weil er ständig was mit seinen Freunden machte und mich allein zurückließ. Ich hatte ihn angebettelt, einmal bei mir zu bleiben und aus meiner verzweifelten Bettelei wurde Wut und in dieser bin ich auf ihn losgegangen und habe ihm fast den Arm gebrochen. Das war kurz nach unserem Rauswurf von zuhause gewesen.
Um so etwas zu vermeiden, trottete ich den Weg zurück, den Spott im Nacken und schließlich auch mit Tränen, die mir über die Wangen liefen. Das war so typisch, erst eine große Klappe und schließlich war ich wieder am Heulen. Ich hasste dieses kindische Verhalten an mir so sehr, doch ich konnte es nicht ändern. Das ist auch heute noch so.

Ich kam zurück ins Zimmer und schlug die Türe hinter mir zu, schniefend pfefferte ich mein Handy aufs Bett- um gleich darauf zu erröten. Toll, Blamage hoch zehn! Meine Zimmerkollegin hatte sich mittlerweile eingefunden und sah mich jetzt mit einer Mischung aus Verwirrung und Mitleid an. Sie trug eine Brille, hatte braunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und sah nicht aus, wie eins dieser Supermodels, sondern hatte eine schöne weibliche Figur. Und sie sah auch nicht aus, wie eine Schicki-Micki-Tussi. Das beruhigte mich etwas.
Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und setzte mich aufs Bett. Was für ein hervorragender erster Eindruck.
“Alles okay?”, hörte ich sie fragen und ich nickte eifrig, während ich nach Taschentüchern suchte. Irgendwo in meinem Rucksack hatte ich doch noch welche gehabt.
“Heimweh”, log ich mit einem leichten, schiefen Lächeln und wandte mich von ihr ab, um mich zu schnäuzen. Heimweh. Noch erbärmlicher gehts ja wohl nicht! Aber das war das erste was mir in den Sinn gekommen war und immer noch besser als die Wahrheit.
“Das kenn ich, in meinem ersten Jahr hier war das auch so”, meinte sie in freundlichem Tonfall und sah mich weiterhin an. Es war mir ehrlich unangenehm, also versuchte ich, mit einem Gespräch von meiner Heulerei abzulenken.
“Ich bin Freya”, stellte ich mich vor, “sorry für diesen katastrophalen Auftritt.” Zögernd streckte ich ihr meine Hand entgegen. Das Mädchen schüttelte den Kopf: “Ist doch nicht schlimm. Ich heiße Mira. Freut mich, dich kennenzulernen.”
Wir schüttelten uns die Hände und ich musste unweigerlich lächeln. Ihre Hände waren warm, ihr Händedruck stark, aber nicht zu stark. Ich mochte sie sofort.

Der restliche Abend verlief ziemlich ereignislos, wir quatschten noch etwas über Belanglosigkeiten, futterten Schokolade und fielen schließlich in den Tiefschlaf. Nachts wachte ich kurz auf, weil mir mit einem Mal Panik in die Glieder fuhr. Ich wusste nicht, woher diese rührte, noch wovor ich Panik hatte. Doch sie war da. Ich setzte mich kurz auf und blickte zum Wandschrank. Jetzt, wo er geschlossen war, erkannte ich einen großen Spiegel auf diesem. Ich hasste Spiegel, schon immer. Sie machten mir Angst, ganz besonders Nachts. Mit einem unbehaglichen Gefühl, das schon fast wieder an Panik reichte, drehte ich dem Spiegel den Rücken zu und zwang meine Augen, sich zu schließen. Nach einer Weile schlief ich erneut ein, träumend von blutverschmierten, leeren Gestalten im Spiegel.


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