Donnerstag, 23. Mai 2013

Kapitel 6- Tiefpunkt

Eine Woche war vergangen. Eine Woche, die ich mit Danielle verbracht hatte, zumindest zum Großteil. Mira war natürlich immer noch skeptisch und das konnte ich ihr nicht verübeln. Aber ich war mir sicher, dass alles gut war. Immerhin war es schon eine Woche her.
Ich saß auf dem Tisch meines Platzes im Chemieraum und beobachtete das Treiben, das teilweise sehr kindisch war. Zwei Jungs machten sich am Waschbecken zu schaffen und spritzten vorbeilaufende Mädchen an, welche darauf hin kreischten, als würde jemand mit dem Messer hinter ihnen her sein. Das war doch lächerlich. Kopfschüttelnd senkte ich wieder den Bleistift aufs Papier und setzte meine Zeichnung fort. Seit ein paar Jahren versuchte ich mich an Mangazeichnungen, einfach weil ich diese Richtung liebte. Seit ich das erste Mal Sailor Moon gesehen hatte, war ich total süchtig danach. Ich glaube, ich war acht Jahre alt, als die Serie aus Japan über den Bildschirm flimmerte. Das faszinierte mich so sehr, dass ich bald anfing, jede Animeserie zu süchteln, die im Fernsehen zu sehen war. Das war Kindheit gewesen! Wenn ich heute ins TV-Programme gucke, womit die Kinder heutzutage zugebombt werden...da wundert es mich nicht, dass die Kinder immer respekt- und niveauloser werden.
Jedenfalls machte ich gerade eine Wunschzeichnung für eine Klassenkollegin. Lustigerweise genau eins von Sailor Moon. Ich war regelrecht überrascht, dass hier überhaupt jemand so etwas kannte.
“Was machst du?”, riss eine herablassende Stimme mich aus den Gedanken, die nur Kristin gehören konnte. Ich hatte keine Lust, mich auf eine Diskussion einzulassen, dennoch antwortete ich recht grimmig: “Ich wüsste nicht, was dich das angeht.”
Dabei versuchte ich, meine Zeichnung zu verdecken, doch Kristin riss sie mir aus der Hand und machte sie damit kaputt, da eine Ecke hängen blieb. Das brachte mich zur Weißglut.
“Hast du sie noch alle?”, fuhr ich sie an und war kurz davor, ihr eine zu scheuern. Ich ließ mir ja vieles gefallen, aber wenn man sich an meinen Zeichnungen zu schaffen machte, dann war das gefährlich. Da konnte ich nicht ruhig bleiben. Kristin schenkte mir nur ein abfälliges Lächeln, ehe sie sich die Zeichnung besah, weiterhin spöttisch.
“Bist du nicht etwas zu alt für diesen Mist?”, meinte sie schließlich und pfefferte mir die Zeichnung auf den Tisch, “abgesehen davon sieht es echt scheiße aus.”
Okay, ich wusste selbst, dass ich nicht besonders gut im Zeichnen war. Aber es war, als würde ich am Boden liegen und sie trat noch auf mich drauf. Bisher war ich mit dem Bild nämlich einigermaßen zufrieden gewesen. Was jetzt allerdings total dahin war. Doch ich ließ mir nichts anmerken.
“Machs doch selbst besser”, gab ich zurück und hoffte, dabei so griesgrämig zu klingen, wie ich es wollte. Es nervte mich, dass sie andere runtermachte wegen Dingen, die sie vermutlich nichtmal ausprobiert hatte. Ihre Reaktion fiel so aus, wie man sie von ihr erwartete: Sie warf ihr blondes Haar zurück, schenkte mir einen herablassenden Blick und sagte spöttisch: “Als ob ich so tief sinken würde, das ist doch Kinderkacke. Werd erwachsen.”
Mit erhobenem Haupt stolzierte sie auf ihren Platz. Diese Person schaffte es, mich zu Dingen zu verleiten, die ich sonst niemals tun würde. Auch dieses Mal. Ich knüllte meine Zeichnung zusammen und warf sie ihr an den Kopf, wobei ich es schade fand, dass kein Stein drin war. Ich war zwar unsicher, aber auch ich durfte schlechte Gedanken haben, auch wenn ich sie nicht in die Tat umsetzte.
Dies war die letzte Zeichnung für eine sehr lange Zeit. Nachdem ich sie neu gemacht hatte und auch beendet, hatte ich 2 Jahre lang keine Zeichnung mehr gemacht. Ich hatte die Lust daran vollkommen verloren. Und dafür hasse ich mich heute noch. Hätte ich nicht aufgehört, wäre ich jetzt wohl viel besser.
Noch am selben Tag bekamen wir unseren Deutsch Aufsatz zurück, auf den ich eine glatte Eins hatte. Ich liebte es, Aufsätze zu schreiben. Das hob meine Laune ein kleines bisschen. Aber nur für eine kurze Zeit. Denn kaum klingelte es zur Pause, kam Philippe auf mich zu und nahm den Aufsatz an sich: “Guckt euch mal diese Streberin an! Ein Fehler und unter der Note: Sehr gut geschrieben! Du tust eh nichts anderes als zu lernen, was? Oder hast du dich beim Lehrer eingeschleimt? Kein Wunder, dass du keine Freunde hast!” Damit traf er einen wunden Punkt. Klar, ich hatte Mira, aber sie war mehr eine Zimmerkollegin als eine wirkliche Freundin. Und Danielle...war eben Danielle. Aber bisher konnte ich damit immer gut leben, schließlich habe ich mich ja selbst abgeschottet. Vermutlich als Sicherheitsmaßnahme, wie mein Psychologe später sagen wird.
“Na und, dann bin ich halt ne Streberin”, entgegnete ich und nahm ihm meinen Aufsatz weg, “ihr werdet dafür irgendwann auf der Straße landen mit euren miesen Noten.” Ich fragte mich, woher ich diesen Mut nahm, denn eigentlich war er vergeblich. Meine Sachen landeten in meiner Umhängetasche und ich floh direkt aus der Klasse, während die Hälfte davon mir lachend hinterhersah. Dieses Lachen werde ich nie vergessen, noch heute verfolgt es mich in meinen Träumen.
Ich erreichte das Zimmer und schmiss die Türe hinter mir zu. Zuerst musste ich ein paar Mal durchatmen, um nicht zu heulen. Ich fragte mich, warum ich mir das überhaupt zu Herzen nahm, von Menschen die mich nicht kannten. Sie sprachen zwar die Wahrheit, aber das konnten sie ja eigentlich nicht wissen.
Mira war nicht da, also konnte ich mich in Ruhe auslassen. Ich zog den Aufsatz aus meiner Tasche und starrte ihn an. Ich las ihn nicht, ich starrte ihn nur an, bis er vor meinen Augen verschwamm. In einem plötzlichen Anflug von Wut, zerriss ich ihn in viele kleine Schnipsel, die schließlich im Müll landeten und zog meine Schreibtischschublade auf. Dort bewahrte ich seit neuestem eine Packung Zigaretten auf. Jedesmal wenn ich mit Danielle unterwegs war, rauchte ich mit. Innerhalb einer Woche war das zur Gewohnheit geworden. Ich hasste es, dass ich das tat. Aber ich vertrat die Überzeugung, dass ich jederzeit aufhören konnte. Und ich tat es ja nur, damit Danielle sich nicht über mich lustig machte. Eine Weile stand ich regungslos da, ehe ich die Packung nahm, meine Jacke überwarf und runter zum Teich ging. Zum ersten Mal ging ich dort alleine hin, um zu rauchen. Aber ich hatte im Moment so das Bedürfnis danach, dass ich es nicht aushielt. Ich war schwach..und ich sollte noch schwächer werden.
Ich zündete mir die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Ich fühlte mich im selben Moment schuldig und frei. Auf jeden Fall brachte es mich etwas runter und damit war ich zufrieden. Ich starrte in den Teich, die Worte hallten immer noch in meinem Kopf wieder. Streberin. Keine Freunde. Ich sah mich vor mir, mit 60 Jahren und umringt von Katzen. Ja, so würde ich vermutlich enden. Ich fing ja jetzt schon damit an. Ein trockenes, freudloses Lachen kam über meine Lippen. Ich war ja so erbärmlich. Was wollte ich eigentlich noch alles verkacken? Aus mir würde doch sowieso nie was werden, ganz egal, wie gute Noten ich hatte. Im Grunde blieb ich das dumme Ding, das nicht für sich selbst sorgen konnte und kein Selbstbewusstsein hatte. Ich würde mich nie in eine Gruppe von Menschen integrieren können, weil ich mich selbst zum Außenseiter machte. Was für eine rosige Zukunft.
Seufzend warf ich den Zigarettenstummel ins Gras, was so gar nicht dem entsprach, wie ich mich sonst benahm, aber im Moment war es mir ziemlich egal. Zehn Minuten später machte ich mich auf den Rückweg, etwas entspannter und vorallem wieder ruhiger. Ich kam nicht mal bis zum Wohntrakt, als ich schon wieder aufgehalten wurde. Diesmal von Kristins anderer Freundin, Marissa. Sie hasste ich fast so sehr, wie ich Kristin selbst hasste. Ich wollte nicht mit ihr sprechen, also lief ich schnell weiter. Sie packte mich am Handgelenk und hielt mich zurück.
“Renn doch nicht weg”, meinte sie in lieblicher Stimme, “ich will nur kurz mit dir reden.”
Ich riss mich los: “Ich aber nicht mit dir. Also..” Ich ging weiter, doch sie folgte mir, sodass ich mich gereizt zu ihr umdrehte. Wie konnte man so nervig sein?
“Was willst du von mir?”, fragte ich sie aggressiv und starrte sie entnervt an. Ich hatte für heute wirklich genug von allen.
“Ich wollte dich zur Party am Samstag einladen”, meinte Marissa ganz unschuldig, “es gibt noch ein paar Einladungen und Kristin meinte, ich soll dich einladen. Als Entschuldigung für das heute Mittag.” Damit hielt sie mir einen hellblauen Briefumschlag hin. Ich nahm ihn misstrauisch entgegen.
“Achja?”, fragte ich nur skeptisch und nahm die Einladung heraus, die anscheinend aus der Druckerei stammte. In edler schnörkliger Schrift wurde der Text auf hartem Papier mit einer Prägung gedruckt. Wie spießig.
Marissa schenkte mir ein Lächeln, ehe sie sich wieder entfernte. Ich blickte auf die Einladung und wollte sie in den nächstbesten Mülleimer werfen, doch dann hielt ich inne. Vielleicht sollte ich ja doch mal gucken, was passierte. Ich ahnte zwar, dass es schlecht laufen würde, aber was hatte ich schon zu verlieren?

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