Ich
hatte eine ziemlich unruhige Nacht, träumte ziemlichen Mist, wenn ich
ehrlich war. Verfolgungsjagden, gesichtslose Gestalten, die mich jagten.
Dunkle Keller, laute Krawalle, Menschenmassen, plötzliche Leere. Alles
in allem war es sehr wirr und erschöpfte mich mehr, als dass mich der
Schlaf erholte.
Als
ich am Morgen meinen Wecker abstellte, fühlte ich mich total gerädert.
Mir war immer noch etwas schlecht, aber das war wohl mein kleinstes
Problem. Eine Weile lag ich auf dem Rücken und starrte an die Decke. Es
graute mir davor, mich aus dem Zimmer zu bewegen, ich hatte Angst vor
dem, was mich erwarten könnte. Denn in einem war ich mir sicher: Kristin
ließ das bestimmt nicht auf sich beruhen. Ich bekam Magenschmerzen und
fühlte mich wieder in die neunte Klasse versetzt. Ich wollte mich im
Zimmer verkriechen und nicht mehr rausgehen. Doch leider war das jetzt
nicht mehr so einfach wie letztes Jahr. Wer hier ohne ersichtlichen
Grund schwänzte, riskierte einen Rauswurf. Also kämpfte ich mich
irgendwann doch aus dem Bett. Mechanisch zog ich mich an- ganz froh
darüber, dass es so kalt war und ich lange Sachen tragen konnte- und
machte mich fertig. Wie fast immer verzichtete ich darauf mich zu
schminken, auch eine Tatsache, die mich zum Außenseiter machte. Das
verstand ich nie- wieso wurde man zum Außenseiter, wenn man sein Gesicht
nicht mit Schminke zukleisterte? Das ergab keinen Sinn. Aber so oder so
schien ich einfach zum Mauerblümchen geboren zu sein. Zusammen mit Mira
ging ich in den Speisesaal und setzte mich mit meinem Frühstückstablett
an den Tisch. Ich frühstückte eigentlich nicht wirklich. Eine Tasse
Kaffee und ein Apfel, den ich mir mit Mira teilte. Ich bekam einfach
nicht mehr runter (der Kaffee war schon eine Steigerung), ohne dass mir
schlecht wurde.
Während
ich an meiner Tasse nippte, überflog ich die Zeitung. Es stand selten
etwas wirklich Neues drin, aber es hatte sich in den Wochen hier zu
einem Ritual entwickelt. Zuerst las ich das Horoskop- an welches ich zu
50% glaubte. Ich belächelte es immer, da ich mir dachte, im Grunde
trifft es nicht zu. Danach ging ich über zum Wetter, zur Titelstory und
zu den Todesanzeigen. Sport und Börse ließ ich aus, damit konnte ich
nichts anfangen. Während im ganzen Speisesaal Lärm herrschte, war es an
unserem Tisch immer recht still. Mira unterhielt sich in gedämpftem
Tonfall mit ihrer Kindheitsfreundin Simona, ich las Zeitung und die
beiden anderen, die immer bei uns saßen, kannte ich eigentlich nicht.
Als
Kristin und ihre Gefolgschaft den Speisesaal betraten, schrumpfte ich
noch mehr auf meinem Stuhl zusammen und schob die Tasse von mir. Jetzt
bekam ich nichts mehr runter. Keinen Schluck mehr. Kristins Blick traf
mich, brannte sich regelrecht auf meine Haut. Erst jetzt weiß ich, was
für ein Nervenbündel ich damals schon war. Früher kam es mir immer neu
vor.
Ich
scharrte mit dem Fuß auf dem Boden und zwang meinen Blick auf die
Tischplatte, so nach dem Motto ‘Wenn ich sie nicht sehe, sieht sie mich
auch nicht’. Das war natürlich ein Fehlschlag, eine benutzte Serviette
landete auf meinem Kopf und Kristin ließ ein spöttisches Lächeln sehen:
“Ups, ich dachte, das wäre der Abfalleimer.” Lachend zog sie mit ihrer
Gruppe weiter. Mit einem Gefühl der Gleichgültigkeit, das ich von mir
gar nicht kannte, nahm ich die Serviette in die Hand und ließ sie auf
mein Tablett fallen.
“Lässt
du dir das einfach so gefallen?”, wandte sich Simona an mich und sah
mich ungläubig an. Ihre Stimme klang ein wenig vorwurfsvoll, was ich
nicht nachvollziehen konnte. Verstand sie denn nicht, dass ich nur noch
mehr Ärger kriegen würde, wenn ich mich wehrte?
“Was
soll ich denn deiner Meinung nach machen?”, fragte ich sie also spitz
und auch gespannt auf ihre Antwort, während ich meine Arme vor der Brust
verschränkte. Ja, ich gebe zu, meine Laune war nicht die Beste, aber
auf solche Kommentare konnte ich verzichten.
“Geh doch zu nem Lehrer oder so?”, schlug sie genau das vor, was ich bereits erwartete. Das war ja klar gewesen.
“Nein.
Dann wird alles nur noch schlimmer. Ich krieg das schon hin”, sagte ich
auch ihr und stand auf. Mit den Worten, ich müsste noch etwas
erledigen, verließ ich den Speisesaal fast fluchtartig. An die nächsten
Minuten kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass ich
plötzlich heulend in der Toilette stand und mir die Unterlippe blutig
biss. Gleichzeitig beschimpfte ich mich selbst als schwache Heulsuse,
als Jammerlappen.
“Meine
Fresse, das war doch nur eine Serviette, dummes Kind!”, hörte ich mich
sagen und betrachtete das mit Tränen vermischte Blut, das ins
Waschbecken tropfte. Wieso war ich so schwach? So erbärmlich? Wieso
machte mich das fertig? So konnte es nicht weitergehen. Ich war doch
hier, um mich zu verändern.
Mein
Blick verlor sich im Spiegel, ohne richtig hinzusehen, während meine
Gedanken auf Wanderschaft gingen. Ich stellte mir ein anderes Ich vor.
Ein selbstbewusstes Ich, das sich nichts gefallen ließ, eine Person die
stark war, vielleicht sogar beliebt. Gespräche liefen ganz anders ab.
Ich lachte und machte Scherze. Ich wollte diese Person werden, wirklich.
Und ich entschied mich, sofort damit anzufangen.
Ich
wusch mir mit kaltem Wasser das Gesicht und atmete tief durch. Genug
geheult und gejammert. Ab jetzt würde ich das nicht mehr mit mir machen
lassen. Okay, es war nicht der beste Tag um diesen Entschluss zu fassen,
ich war immer noch aufgewühlt wegen den Büchern und den Träumen, aber
man war nur einmal jung. Jetzt oder nie! schrie mein Kopf. Ich verließ
die Toiletten und ging zurück in unser Zimmer, wo ich mir etwas Make-up
von Mira lieh, Kajal und Wimperntusche auftrug und mir andere Klamotten
raussuchte. Zugegeben, ich fand eigentlich alles was ich hatte scheiße.
Ich hätte auch wirklich ein ganz neues Selbstbewusstsein haben können,
ein Walross war ich trotzdem noch und meine Klamotten sahen aus wie eine
Mischung aus Flohmarkt und Caritas, weil ich einfach keinen
Modegeschmack hatte. Aber mit einer schwarzen Hose und einem
dunkelgrünen Pulli mit Schleife am Kragen fühlte ich mich sichtlich
wohler, als mit den Sachen, die ich am ersten Tag trug.
Ich
schnappte meine Schulbücher und ging in die Klasse. Wir hatten
Englisch. Allein diese Tatsache ließ mich grinsen, da Kristins Freundin
ja noch gestern um Hilfe gebeten hatte. Armes Mädchen.
Zielstrebig
ging ich auf meinen Platz zu und wollte mich gerade setzen, da merkte
ich, dass Milch über meinen Stuhl geschüttet war. Mein Blick fiel sofort
auf Kristin und Philippe, die sich hastig abwandten. Geräuschvoll zog
ich den Stuhl zurück und wischte die Milch mit Taschentüchern auf. Dann
ging ich nach vorne, um die Taschentücher zu entsorgen, allerdings kam
mir etwas anderes in den Sinn. Ich fiel herab auf Kristins Niveau und
ich hasse mich noch heute dafür. Mit leisen Schritten ging ich auf die
beiden zu und dann drückte ich das Taschentuch über Kristins Kopf aus.
Die Milch tropfte in ihre Haare und sie schrie angewidert auf. Zum
zweiten Mal in zwei Tagen. Ich fühlte mich gut dabei, mich dafür zu
rächen, was sie mir angetan hatte, ich fühlte mich ebenbürtig- dass es
auf eine negative Weise war, würde ich erst hinterher merken.
“Das
war die Revange dafür, dass du meine Bücher zerstört hast”, klärte ich
sie auf und warf das Taschentuch in den Müll. Ein paar Mitschüler
blickte mich verwirrt an, aber das kratzte mich diesmal nicht. Ich
fühlte mich einfach nur gut. Und mein Platz war auch wieder sauber.
Den
restlichen Tag verbrachte ich damit, mich nicht unterkriegen zu lassen
und das gelang mir sogar ganz gut. Ich ignorierte die Blicke von
Kristin, Philippe und der restlichen Gruppe, arbeitete vor mich hin und
reagierte nur, wenn ich von Menschen angesprochen wurde, die ich in
irgendeiner Weise leiden konnte. So ging der Tag gut rum.
Es
war Abends und ich saß erneut in der Bücherei, diesmal um meine
Hausaufgaben fertig zu machen. Ich war müde, es war ziemlich
anstrengend, so unnahbar zu sein, ob man es glaubte oder nicht. So hörte
ich gar nicht, dass sich jemand neben mich setzte. Erst, als ich
angeschubst wurde, blickte ich auf. Schon wieder diese Freundin von
Kristin. Innerlich verdrehte ich die Augen.
“Ich
hab meine Frage gestern ernst gemeint”, fing sie an zu reden, “ich bin
echt total mies in Englisch und könnte etwas Hilfe wirklich gebrauchen.
Professor Mayr hat gemeint, du wärst gut, also wollte ich dich fragen.”
Skeptisch
musterte ich sie, ich konnte ihr nicht so recht glauben: “Du bist eine
Freundin von Kristin.” Okay, das war eigentlich kein Grund, ihr nicht zu
helfen, aber...immerhin musste sie ja gepetzt haben, damit die Blondine
meine Bücher zerstörte.
“So
ist das nicht”, entgegnete sie sofort, “ich gehöre zu ihrer Clique,
aber eigentlich auch nur, damit sie mich in Ruhe lässt.” Einerseits
klang das unglaubwürdig, andererseits aber auch absolult
nachvollziehbar. Prüfend musterte ich sie- und meine Gutmütigkeit
gewann.
“Okay, ich werd dir helfen”, gab ich also klein bei. Ihr Lächeln wirkte echt auf mich, also lächelte ich zurück.
“Du
heißt Freya, richtig? Ich heiße Danielle”, meinte sie in so
freundlichem Tonfall, dass ich nicht anders konnte, als ihr zu glauben.
Ich nickte leicht und wollte mich wieder um meine Hausaufgaben kümmern,
aber sie ließ mich nicht.
“Komm
doch ein bisschen mit raus, frische Luft wird dir gut tun”, meinte sie
mit einem breiten Grinsen, “hier drin versauerst du doch nur.
Hausaufgaben kannst du später auch noch machen.” Danielle ließ mir keine
Wahl, sie nahm mir meine Bücher weg und meine Tasche, wo sie die Bücher
reinstopfte und ging schonmal voraus. Ich stand einen Augenblick reglos
da, ehe ich ihr folgte. Verbündete ich mich jetzt mit dem ‘Feind’?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen