Montag, 20. Mai 2013

Kapitel 4- Schleichende Veränderung

Ich hatte eine ziemlich unruhige Nacht, träumte ziemlichen Mist, wenn ich ehrlich war. Verfolgungsjagden, gesichtslose Gestalten, die mich jagten. Dunkle Keller, laute Krawalle, Menschenmassen, plötzliche Leere. Alles in allem war es sehr wirr und erschöpfte mich mehr, als dass mich der Schlaf erholte.
Als ich am Morgen meinen Wecker abstellte, fühlte ich mich total gerädert. Mir war immer noch etwas schlecht, aber das war wohl mein kleinstes Problem. Eine Weile lag ich auf dem Rücken und starrte an die Decke. Es graute mir davor, mich aus dem Zimmer zu bewegen, ich hatte Angst vor dem, was mich erwarten könnte. Denn in einem war ich mir sicher: Kristin ließ das bestimmt nicht auf sich beruhen. Ich bekam Magenschmerzen und fühlte mich wieder in die neunte Klasse versetzt. Ich wollte mich im Zimmer verkriechen und nicht mehr rausgehen. Doch leider war das jetzt nicht mehr so einfach wie letztes Jahr. Wer hier ohne ersichtlichen Grund schwänzte, riskierte einen Rauswurf. Also kämpfte ich mich irgendwann doch aus dem Bett. Mechanisch zog ich mich an- ganz froh darüber, dass es so kalt war und ich lange Sachen tragen konnte- und machte mich fertig. Wie fast immer verzichtete ich darauf mich zu schminken, auch eine Tatsache, die mich zum Außenseiter machte. Das verstand ich nie- wieso wurde man zum Außenseiter, wenn man sein Gesicht nicht mit Schminke zukleisterte? Das ergab keinen Sinn. Aber so oder so schien ich einfach zum Mauerblümchen geboren zu sein. Zusammen mit Mira ging ich in den Speisesaal und setzte mich mit meinem Frühstückstablett an den Tisch. Ich frühstückte eigentlich nicht wirklich. Eine Tasse Kaffee und ein Apfel, den ich mir mit Mira teilte. Ich bekam einfach nicht mehr runter (der Kaffee war schon eine Steigerung), ohne dass mir schlecht wurde.
Während ich an meiner Tasse nippte, überflog ich die Zeitung. Es stand selten etwas wirklich Neues drin, aber es hatte sich in den Wochen hier zu einem Ritual entwickelt. Zuerst las ich das Horoskop- an welches ich zu 50% glaubte. Ich belächelte es immer, da ich mir dachte, im Grunde trifft es nicht zu. Danach ging ich über zum Wetter, zur Titelstory und zu den Todesanzeigen. Sport und Börse ließ ich aus, damit konnte ich nichts anfangen. Während im ganzen Speisesaal Lärm herrschte, war es an unserem Tisch immer recht still. Mira unterhielt sich in gedämpftem Tonfall mit ihrer Kindheitsfreundin Simona, ich las Zeitung und die beiden anderen, die immer bei uns saßen, kannte ich eigentlich nicht.
Als Kristin und ihre Gefolgschaft den Speisesaal betraten, schrumpfte ich noch mehr auf meinem Stuhl zusammen und schob die Tasse von mir. Jetzt bekam ich nichts mehr runter. Keinen Schluck mehr. Kristins Blick traf mich, brannte sich regelrecht auf meine Haut. Erst jetzt weiß ich, was für ein Nervenbündel ich damals schon war. Früher kam es mir immer neu vor.
Ich scharrte mit dem Fuß auf dem Boden und zwang meinen Blick auf die Tischplatte, so nach dem Motto ‘Wenn ich sie nicht sehe, sieht sie mich auch nicht’. Das war natürlich ein Fehlschlag, eine benutzte Serviette landete auf meinem Kopf und Kristin ließ ein spöttisches Lächeln sehen: “Ups, ich dachte, das wäre der Abfalleimer.” Lachend zog sie mit ihrer Gruppe weiter. Mit einem Gefühl der Gleichgültigkeit, das ich von mir gar nicht kannte, nahm ich die Serviette in die Hand und ließ sie auf mein Tablett fallen.
“Lässt du dir das einfach so gefallen?”, wandte sich Simona an mich und sah mich ungläubig an. Ihre Stimme klang ein wenig vorwurfsvoll, was ich nicht nachvollziehen  konnte. Verstand sie denn nicht, dass ich nur noch mehr Ärger kriegen würde, wenn ich mich wehrte?
“Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?”, fragte ich sie also spitz und auch gespannt auf ihre Antwort, während ich meine Arme vor der Brust verschränkte. Ja, ich gebe zu, meine Laune war nicht die Beste, aber auf solche Kommentare konnte ich verzichten.
“Geh doch zu nem Lehrer oder so?”, schlug sie genau das vor, was ich bereits erwartete. Das war ja klar gewesen.
“Nein. Dann wird alles nur noch schlimmer. Ich krieg das schon hin”, sagte ich auch ihr und stand auf. Mit den Worten, ich müsste noch etwas erledigen, verließ ich den Speisesaal fast fluchtartig. An die nächsten Minuten kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass ich plötzlich heulend in der Toilette stand und mir die Unterlippe blutig biss. Gleichzeitig beschimpfte ich mich selbst als schwache Heulsuse, als Jammerlappen.
“Meine Fresse, das war doch nur eine Serviette, dummes Kind!”, hörte ich mich sagen und betrachtete das mit Tränen vermischte Blut, das ins Waschbecken tropfte. Wieso war ich so schwach? So erbärmlich? Wieso machte mich das fertig? So konnte es nicht weitergehen. Ich war doch hier, um mich zu verändern.
Mein Blick verlor sich im Spiegel, ohne richtig hinzusehen, während meine Gedanken auf Wanderschaft gingen. Ich stellte mir ein anderes Ich vor. Ein selbstbewusstes Ich, das sich nichts gefallen ließ, eine Person die stark war, vielleicht sogar beliebt. Gespräche liefen ganz anders ab. Ich lachte und machte Scherze. Ich wollte diese Person werden, wirklich. Und ich entschied mich, sofort damit anzufangen.
Ich wusch mir mit kaltem Wasser das Gesicht und atmete tief durch. Genug geheult und gejammert. Ab jetzt würde ich das nicht mehr mit mir machen lassen. Okay, es war nicht der beste Tag um diesen Entschluss zu fassen, ich war immer noch aufgewühlt wegen den Büchern und den Träumen, aber man war nur einmal jung. Jetzt oder nie! schrie mein Kopf. Ich verließ die Toiletten und ging zurück in unser Zimmer, wo ich mir etwas Make-up von Mira lieh, Kajal und Wimperntusche auftrug und mir andere Klamotten raussuchte. Zugegeben, ich fand eigentlich alles was ich hatte scheiße. Ich hätte auch wirklich ein ganz neues Selbstbewusstsein haben können, ein Walross war ich trotzdem noch und meine Klamotten sahen aus wie eine Mischung aus Flohmarkt und Caritas, weil ich einfach keinen Modegeschmack hatte. Aber mit einer schwarzen Hose und einem dunkelgrünen Pulli mit Schleife am Kragen fühlte ich mich sichtlich wohler, als mit den Sachen, die ich am ersten Tag trug.
Ich schnappte meine Schulbücher und ging in die Klasse. Wir hatten Englisch. Allein diese Tatsache ließ mich grinsen, da Kristins Freundin ja noch gestern um Hilfe gebeten hatte. Armes Mädchen.
Zielstrebig ging ich auf meinen Platz zu und wollte mich gerade setzen, da merkte ich, dass Milch über meinen Stuhl geschüttet war. Mein Blick fiel sofort auf Kristin und Philippe, die sich hastig abwandten. Geräuschvoll zog ich den Stuhl zurück und wischte die Milch mit Taschentüchern auf. Dann ging ich nach vorne, um die Taschentücher zu entsorgen, allerdings kam mir etwas anderes in den Sinn. Ich fiel herab auf Kristins Niveau und ich hasse mich noch heute dafür. Mit leisen Schritten ging ich auf die beiden zu und dann drückte ich das Taschentuch über Kristins Kopf aus. Die Milch tropfte in ihre Haare und sie schrie angewidert auf. Zum zweiten Mal in zwei Tagen. Ich fühlte mich gut dabei, mich dafür zu rächen, was sie mir angetan hatte, ich fühlte mich ebenbürtig- dass es auf eine negative Weise war, würde ich erst hinterher merken.
“Das war die Revange dafür, dass du meine Bücher zerstört hast”, klärte ich sie auf und warf das Taschentuch in den Müll. Ein paar Mitschüler blickte mich verwirrt an, aber das kratzte mich diesmal nicht. Ich fühlte mich einfach nur gut. Und mein Platz war auch wieder sauber.

Den restlichen Tag verbrachte ich damit, mich nicht unterkriegen zu lassen und das gelang mir sogar ganz gut.  Ich ignorierte die Blicke von Kristin, Philippe und der restlichen Gruppe, arbeitete vor mich hin und reagierte nur, wenn ich von Menschen angesprochen wurde, die ich in irgendeiner Weise leiden konnte. So ging der Tag gut rum.
Es war Abends und ich saß erneut in der Bücherei, diesmal um meine Hausaufgaben fertig zu machen. Ich war müde, es war ziemlich anstrengend, so unnahbar zu sein, ob man es glaubte oder nicht. So hörte ich gar nicht, dass sich jemand neben mich setzte. Erst, als ich angeschubst wurde, blickte ich auf. Schon wieder diese Freundin von Kristin. Innerlich verdrehte ich die Augen.
“Ich hab meine Frage gestern ernst gemeint”, fing sie an zu reden, “ich bin echt total mies in Englisch und könnte etwas Hilfe wirklich gebrauchen. Professor Mayr hat gemeint, du wärst gut, also wollte ich dich fragen.”
Skeptisch musterte ich sie, ich konnte ihr nicht so recht glauben: “Du bist eine Freundin von Kristin.” Okay, das war eigentlich kein Grund, ihr nicht zu helfen, aber...immerhin musste sie ja gepetzt haben, damit die Blondine meine Bücher zerstörte.
“So ist das nicht”, entgegnete sie sofort, “ich gehöre zu ihrer Clique, aber eigentlich auch nur, damit sie mich in Ruhe lässt.” Einerseits klang das unglaubwürdig, andererseits aber auch absolult nachvollziehbar. Prüfend musterte ich sie- und meine Gutmütigkeit gewann.
“Okay, ich werd dir helfen”, gab ich also klein bei. Ihr Lächeln wirkte echt auf mich, also lächelte ich zurück.
“Du heißt Freya, richtig? Ich heiße Danielle”, meinte sie in so freundlichem Tonfall, dass ich nicht anders konnte, als ihr zu glauben. Ich nickte leicht und wollte mich wieder um meine Hausaufgaben kümmern, aber sie ließ mich nicht.
“Komm doch ein bisschen mit raus, frische Luft wird dir gut tun”, meinte sie mit einem breiten Grinsen, “hier drin versauerst du doch nur. Hausaufgaben kannst du später auch noch machen.” Danielle ließ mir keine Wahl, sie nahm mir meine Bücher weg und meine Tasche, wo sie die Bücher reinstopfte und ging schonmal voraus. Ich stand einen Augenblick reglos da, ehe ich ihr folgte. Verbündete ich mich jetzt mit dem ‘Feind’?


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